Anmerkungen zu den Arbeiten von Anna Recker

Von Peter Lodermeyer

Das Werk von Anna Recker hat etwas Magisches. Die geometrischen Formen, mit denen sie vorzugsweise arbeitet, zeigen, einmal zur Sichtbarkeit gebracht, den Drang, über alles Definierte und mathematisch Eindeutige hinauszugehen, sich zu entwickeln und dabei zu verwandeln. Ausgehend von schlichten konstruktiven Figuren – Spiralen, regelmäßigen Dreiecken und Sechsecken etwa – und mit einfachen Anordnungsregeln operierend wie zum Beispiel kreisförmigen Reihungen, durchlaufen diese Formen zahlreiche und unerwartete Metamorphosen. Aus einer Abfolge von linearen Schemata treten durch Hinzufügung von Schatten plötzlich gezeichnete Körper hervor, wie in Verwandlungsträumen werden aus diesen steinerne Artefakte oder offene Landschaften; aus Sechsecken wachsen komplexe Hohlkörper, Waben, archaische Irrgärten. Oder die gezeichneten Mutationen springen in die dreidimensionale Realwelt über und werden zu Objekten wie aus Stein geschnittenen Platten, modularen Dreiecksformen bespannter Leinwände, oder es entstehen hölzerne Bauteile, die sich immer neu anordnen lassen. Anna Reckers Kunstwerke bilden eine eigene ars combinatoria, sie sind analytisch-synthetische Meditationen über die inneren Eigenschaften geometrischer Formen und zugleich Studien zu unserer gedanklichen, sinnlichen und emotionalen Auffassung der elementaren Raum- und Weltverhältnisse. Anna Reckers Arbeit ist wie in der Kunsttheorie der Renaissance durch das Primat der Zeichnung, des disegno bestimmt. Zeichnung ist bei ihr zugleich konstruktives Prinzip und formende Kraft und wie bei Giorgio Vasari der Vater (oder hier vielleicht eher: die Mutter) aller künstlerischen Genres. Ihre mit altmeisterlichem Können gearbeiteten Blätter weisen Recker als eine eminente Zeichnerin aus. Aus dem konstruktiv-geometrischen Geist ihrer Zeichnungen heraus erschließt sie sich weitere Kunstgattungen, sie arbeitet mit malerischen Mitteln, skulpturalen Objekten und Rauminstallationen bis hin zu choreografischen Aktionen. In ebenso präzisen wie fiktiven archäologischen Etüden nähert sie sich Fragen der Architektur bzw. einer architektonischen Plastik. Die Übergänge und Verwandlungen von Konstruktionen ins konkret Sinnliche, von Linearem in Flächiges und weiter ins Räumliche und die Bewegung im Raum (und umgekehrt): genau diese Fundamentalmagie des Künstlerischen ist Anna Reckers Arbeitsfeld. Ihr Material ist ein uraltes: es sind die geometrischen Figuren und ihre Grundverhältnisse, wie sie zum Teil schon die Mathematiker der Antike faszinierten – und doch ist das Staunen über ihre Eigenschaften und die in ihnen verborgenen Form- und Entwicklungspotenziale zeitlos gültig und immer wieder neu aktualisierbar. Eine Arbeit wie der „Unendliche Aufstieg“, bei dem 29 gekippte folienbezogene Dreiecksleinwände ringförmig angeordnet sind, zeigt in aller Klarheit den künstlerischen Ansatz von Anna Recker. Trotz der extrem einfachen formalen Situation entsteht ein verwirrend paradoxes Gebilde. Wir sehen, dass sich zwei gegensätzliche Strukturmodelle, einerseits ein entwicklungslogisches Höhersteigen von Stufe zu Stufe und andererseits die zirkuläre Wiederholung des Immergleichen, ineinander verschlungen sind – es sind dies zugleich Modelle der beiden fundamentalen kulturellen Denkmuster der (traditionell fernöstlichen) zyklischen und der (eher westlichen) linearen Zeitauffassung. Anna Recker favorisiert solche paradoxen Momente, wo die Darstellungsebenen verschmelzen, sie kreiert Konstellationen, wo sich konkav und konvex, innen und außen, positiv und negativ vertauschen. So kann auch ihre neuere Beschäftigung mit dem Möbiusband nicht überraschen. Diese, wie die Mathematiker es nennen, „nicht-orientierte“ Figur eines in sich verdrehten Bandes, das nur eine Fläche und eine Kante aufweist, stellt eine Herausforderung an unsere Vorstellungskraft dar, erst recht, wenn sie, wie in Anna Reckers Riesenschleife der Länge nach geteilt wird. Wer den präzisen Paradoxien ihrer Kunst folgt, beginnt zu ahnen, dass mathematische Gegebenheiten zutiefst mit unserem Denken, unserer Wahrnehmung der Welt, aber auch mit Empfindungsqualitäten verknüpft sind. Das verbindet Anna Reckers Arbeit mit antikem Wissen ebenso wie mit den mathematischen Forschungen der Renaissancekünstler oder der konstruktiven Kunst der Moderne. Vergangenheit und aktuelle Gegenwart sind hier wie ein Möbiusband ineinander verschlungen und deuten zusammen auf den Rätselcharakter unserer Wirklichkeit. Dr. Peter Lodermeyer

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